Auf dem Stadtwall in
Göttingen steht eine alte Linde. Bei meinem letzten Besuch im Januar 2024 ist
mir wieder einmal aufgefallen, wie schön sie ist. Daher schreibe ich einen
Beitrag im Blog über sie.
Die Geschichte vom Stadtwall in Göttingen und der Linde von 1765
Der Wall selbst ist schon sehr alt. 1362 hat Herzog Ernst von
Braunschweig-Göttingen entschieden, dass Göttingen durch einen Wall befestigt
und geschützt werden darf. Es dauerte gut 200 Jahre, bis er errichtet war.
Berücksichtigt man zahlreiche zusätzliche zusätzliche Anlagen und Instandsetzungsarbeiten,
kommt man sogar auf eine Bauzeit von 400 Jahren.
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Die Linde von 1765 |
Im Endausbau war der Wall mit einer Festungsmauer versehen, es
gab einen Wallgraben und viele ausgebaute Türme, Schanzen und Außenbastionen.
Durch vier Tore kam man in die Stadt, die im Prinzip gut zu verteidigen war.Im Mittelalter war es ein Privileg, wenn eine Stadt eine
Stadtmauer oder einen Stadtwall zur Verteidigung haben durfte. Solche
Sicherungen waren nicht neu, die gab es schon in der Antike. Die Porta Nigra ist das wohl bekannteste Stadttor in
Deutschland, das noch aus der Zeit der Römer stammt. In Wiesbaden gibt es die Heidenmauer, auch andere
Befestigungen sind seht als. Selbst von Kelten und Germanen sind Befestigungen
um Siedlungen bekannt.
Durch die Entwicklung auch der Militärtechniken verloren
Stadtwälle und Stadtmauern nach dem Mittelalter ihre Funktion. Sie konnten von
Kanonen zerschossen werden. Dem versuchte man zunächst durch stärkere
Befestigungen und sternförmig aufgebaute Befestigungsanlagen zu begegnen. Das
nützte aber nichts, denn mit Kanonen ließ sich auch über eine Mauer
hinüberschießen. Das ist auch in Göttingen passiert.
Also machten Stadtmauern keinen Sinn mehr. Die mit ihnen
verbundenen Kosten standen in keiner Relation zum Nutzen, den sie noch haben
konnten. Zudem schnürte eine starke Befestigung das Wachstum der Städte ein.
Aus diesem Grund waren schon um 1800 viele Stadtbefestigungsanlagen abgerissen
worden.
In Göttingen hat man es anders gemacht. Im Jahr 1762 – nach Ende
des Siebenjährigen Krieges – hat die Stadt beschlossen, dass die Stadt keine
Befestigung mehr haben sollte. Den Wall selbst wollte man jedoch erhalten. Die
offizielle Begründung für diese Entscheidung war, dass die Professoren der
gerade erste gegründeten Universität Göttingen einen schönen Spazierweg um die
Stadt bekommen sollten. Diese Begründung wird auch bis heute kolportiert. Ich
glaube sie aber nicht.
Das das Wohlergehen der Professoren die wirkliche Motivation der
Stadt war, ist eine sehr zweifelhafte Begründung. Die Uni ist 1732/34 gegründet
worden und war schnell ein Erfolg. Für das Jahr 1745 sind ungefähr 600
Studenten überliefert, die an der Georgia Augusta studierten. Für die damalige
Zeit waren das viele. Das akademische Niveau war hoch, die Bezahlung gut und
eine Professur in Göttingen brachte zudem eine echte akademische Reputation mit
sich. Ich denke nicht, dass die Stadt es nötig hatte, sich bei den Professoren
beliebt zu machen. Zumal war die Universität keine Angelegenheit der Stadt,
sondern des Staates. Sie hatte ein eigenes Bürgerrecht. Auch wenn Göttingen
mittelbar profitiert haben mag: Die Stadt und die Universität waren formal zwei
nebeneinander bestehende Angelegenheiten (die allerdings ohneeinander nicht
konnten).
Ich vermute für den Erhalt des Walls einen anderen Grund, den
man allerdings nicht öffentlich eingestehen wollte: Geld.
Die Beseitigung des Stadtwalls dürfte sehr teuer gewesen sein.
Das Geld wollte die Stadt Göttingen sich sparen. Die Stadt konnte einfach auch
außerhalb des Walls weiter ausgebaut werden. Die Befestigung der Stadt sollte
keine weiteren Kosten nach sich ziehen. Aber ob der Wall stehen blieb oder
beseitigt wurde, war eigentlich egal. An einigen Stellen ist er verschwunden,
aber der größte Teil steht noch bis heute.
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Schild an der Linde |
Wie dem auch sei, der Wall blieb und ist bis heute ein
wunderbarer Spazierweg rund um die Stadt. Die Stadt hat ihn mit Linden
bepflanzt und so begrünt. Die älteste, heute noch erhaltende Linde ist um das
Jahr 1765 gesetzt worden. Sie dürfte also noch aus der Zeit der
„Demilitarisierung“ beziehungsweise „Entfestigung“ des Stadtwalls stammen.
Diese Linde ist der einzige Baum, der aus dieser Zeit erhalten
geblieben ist. Sie kann ihren Stand allerdings nur dank vieler menschgemachter
Unterstützung halten. Aber sie lebt und gedeiht prächtig. Dass man auf so ein
altes Wesen gut aufpasst, finde ich gut.
Übrigens ist der Stadtwall heute als Naturdenkmal ausgewiesen.
Er gehört zum Landschaftsschutzgebiet Nordöstliche Göttinger Hochflächen.
Die Linde hat als Bestandteil des Stadtwalls damit sogar ein eigenes amtliches
Kennzeichen: Naturdenkmal ND GÖ-S 93. Das ist doch auch was.
Selbst habe ich den größten Teil meiner Studienjahre in
Göttingen verbracht. Ich gebe zu: An dieser Linde bin ich oft vorbeigekommen,
ohne groß über sie nachzudenken. Warum auch, wenn mich Sorgen vor der nächsten
Klausur, Nachwirkungen der letzten Party oder andere Alltäglichkeiten
beschäftigt haben. Heute finde ich, dass diese Linde wohl eine der schönsten
Attraktionen des Göttinger Stadtwalls ist.
Sie ist ganz einfach zu finden. Wenn Du aus Richtung des
Bahnhofs nach rechts auf den Wall gehst, kommst Du hin. Sie steht kurz vor dem
Bismarckhäuschen auf der Seite, die dem Inneren der Stadt zugewandt ist.
Wenn Du dort bist, dann halte doch einen Moment an. Ich finde,
es lohnt sich diesen wunderschönen und alten Baum einmal in Ruhe anzusehen. Ich
denke darüber nach, was alles in Göttingen so passiert ist, seit er seine
Wurzeln an dieser Stelle des Stadtwalls ausgestreckt hatte. Es waren
schreckliche Zeiten dabei wie die Kriege und auch die Herrschaft der Nazis.
Aber alles das ging vorbei. Der Baum steht noch und ist immer noch grün.
Ein solch alter Baum gibt uns Menschen die Zuversicht, dass das
Leben über alles Übel auf der Welt Bestand hat. Ich finde, das ist ein sehr
tröstlicher Gedanke.
Der Mythos von der Linde
Die Linde ist ein Baum, der schon bei den alten Germanen eine
besondere Bedeutung hatte. Sie verehrten ihn als einen Baum, der ihrer Göttin
Freya geweiht war. Linden galten als der Sitz guter Geister. Freya war die
Göttin der Liebe, des Glücks, der Fruchtbarkeit und des guten Haustandes.
Zusammengefasst kann man sagen, dass es bei Freya um das Wohlergehen der
Menschen ging.
Die Germanen stellten sich vor, dass Bäume und Menschen
miteinander verbunden und vor allem „von gleichem Wesen“ waren. In
neuheidnischen Kulten kommt es deshalb vor, dass ein neuer Gläubiger „seinem“
Baum vorgestellt wird, mit dem er dann Zeit seines Lebens verbunden bleibt.
Allerdings gibt es auch Schattenseiten der Linde. Kann sie den
Menschen schützen, kann sie auch Schutz von ihm abhalten. Deutlich wird das in
der Sigfried-Saga. Als Siegfried im Blut des Drachen badet, das ihn vor
Verletzungen schützen soll, fällt ein Lindenblatt zwischen seine
Schulterblätter. Es hält das Drachenblut davon ab, die Haut an dieser Stelle zu
benetzen. Hier bleibt Siegfried verwundbar. Und Hagen von Tronje Siegfried
tötete, befand dieser sich unter einer Linde.
Wo Germanen lebten und Linden wuchsen, hatte dieser Baum eine
besondere Bedeutung. Er mag vergleichbar gewesen sein mit dem Omphalos der
alten Griechen. Hier trafen die Menschen sich zum Thing und besprachen alle
Angelegenheiten, die ihre Gemeinschaft betrafen. Die Linden galten als ein Ort
der Wahrheit, Gerechtigkeit, Klarheit und Entschlossenheit, hier spielten
Mitgefühl und göttliches Wissen eine große Rolle. Unter Linden empfingen die
dazu berufenen Menschen Signale aus der Geisterwelt, der Mythos der Linde war
den heidnischen Germanen sehr wichtig.
Das ist mit der Christianisierung nicht verschwunden, auch wenn alle
Götzenstatuen und anderen heidnischen Symbole zerstört worden sind. Statt der
Göttin Freya waren diese Bäume nunmehr Maria geweiht, der Mutter Jesu. Manche
Baumheiligtümer wurden als Marienlinden weiter verehrt. Die Religion wechselte,
die Linde blieb.
Ob man in Göttingen von diesen alten Mythen wusste, als man
entschied, den Stadtwall mit Linden zu befassen? Ganz wundern würde mich das
nicht. Ich habe das aus den mir zugänglichen Quellen nicht klären können.
Otto von Bismarck und die Linde auf dem Stadtwall
Der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck hat 1833/34 in
Göttingen studiert.
Seine Zeit in Göttingen muss Bismarck sehr genossen haben. Die
erste Zeit lebte er in der Wohnung des Hauswirts und Bäckers Justus Friedrich
Schumacher. Die heutige Adresse ist Rote
Straße 27. Mit den Studien nahm Bismarck es nicht so genau. Er
genoss seine Freiheiten, war Mitglied des heute noch bestehenden Corps
Hannovera und soll recht trinkfreudig gewesen sein.
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Bismarckhäuschen (Januar 2024) |
Irgendwann reichte es ihm in der Stadt und er bezog eine neue
Wohnung. Ganz freiwillig war der Umzug nicht. Bismarck ist mit den Obrigkeiten
in Göttingen des Öfteren in Konflikt geraten. Das ist auch dadurch gut
nachzuvollziehen, dass der spätere Eiserne Kanzler als Student sogar in
Karzerhaft kam.Seine neue Bleibe befand sich in einem alten Turm der
Befestigungsanlage am Wall, der erhalten geblieben war. Dieser trägt heute den
Namen Bismarckhäuschen und ist ein kleines Museum. Das Bismarckhäuschen liegt
an der äußeren Seite des Stadtwalls, gehört also nicht mehr zur Innenstadt. Mit
seinen Umtrieben dort war Bismarck nicht mehr in Gefahr, von der
Universitätsgerichtsbarkeit belangt zu werden. Andere berichten, dass man ihn
als „Radaubruder“ ausdrücklich aus der Stadt verbannt hätte. Er habe sie nur noch
betreten dürfen, um seinen Studien nachzugehen. Daran mag etwas Wahres sein.
Profaner ist wohl eine andere Erklärung: Vom Häuschen am Wall kam Bismarck
schnell zum Leinekanal, in dem er regelmäßig gebadet hat. Das Leben hier war
für ihn hygienischer als in der Roten Straße.
Die alte Linde befindet sich ganz in der Nähe des
Bismarckhäuschens. Du musst auf dem Wall nur in Richtung Bahnhof gehen, dann
kommt sie alsbald auf der rechten Seite.
Ich habe an einigen Stellen für sie die Bezeichnung
Bismarcklinde gelesen. Fakt ist, dass Otto von Bismarck oft an ihr
vorbeigekommen sein dürfte. Das war bei Bismarck nicht anders als bei jedem
anderen Menschen, der auf dem Stadtwall in Göttingen spazieren geht. Mehr mit
ihm zu tun hatte dieser Baum aber nicht.
Tipp für einen Besuch in Göttingen
Wenn Du auf dem Stadtwall nur die Linde sehen möchtest, dann
sollten Dir die Informationen reichen, die Du auf dieser Seite lesen kannst.
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Blick vom Wall über Göttingen |
Möchtest Du mehr über den Wall, seine Historie und die Geschichten um die
Sehenswürdigkeiten des Walls wissen, dann gibt es eine Führung, die ich Dir
gerne empfehle.Unter dem Motto von der Bastion zur Promenade geht es einmal um
die Altstadt herum. Ihr erfahrt nicht nur etwas über die Sehenswürdigkeiten am
Wall, dazu gibt es auch viele Anekdoten. Es lohnt sich wirklich, diese Tour zu
machen.
Mit dieser Empfehlung schließe ich meinen Beitrag zur alten
Linde auf dem Göttinger Stadtwall ab.